Rockharz Open Air 2022 vom 06. bis 09.07. in Ballenstedt
Text von Saskia Zillekens, Fotos: Jens Hecker / Carsten Brand (Mittwoch) Galerie Impressionen vom RockHarz 2022 Wir zählen das
Text von Saskia Zillekens, Fotos: Jens Hecker / Carsten Brand (Mittwoch)
Galerie Impressionen vom RockHarz 2022
Wir zählen das Jahr 2022 nach irgendeiner fragwürdigen Zeitrechnung. Zwei deprimierende Jahre ohne Festivals und Konzerte liegen nicht nur hinter einer gebeutelten Metalszene, sondern hinter der ganzen Welt. Was bedeutet das für ein angenehm mittelgroßes Open Air mitten in der Harzer Pampa, außer, dass es restlos ausverkauft ist? Hoffentlich nicht viel mehr außer glückliche, ausgehungerte Gäste und Bands, die vier bis fünf Tage eine ekstatische Zeit verleben. Denn bei Inzidenzen, die noch vor einem Jahr für Schnappatmung bei der Regierung und im Gesundheitswesen gesorgt hätten, klingt eine Zusammenkunft mit rund 20.000 Leuten – wenn auch unter freiem Himmel – nicht gerade nach einer bomben Idee.
Doch zur allgemeinen Gesundheitsvorsorge gehört eben auch das seelische Wohlbefinden und das wird bei einem nicht unerheblichen Anteil der Szene eben über Konzert- und Festivalbesuche erlangt. Entsprechend beschwingt und gut gelaunt, wie wir am Mittwoch schließlich am Ballenstedter Flughafen ankommen, werden wir auch an der Tages- und Presse-Bändchenausgabe empfangen. Die Böcke sind offensichtlich nicht nur bei uns Gästen, sondern der gesamten und teils neu aufgestellten Crew groß und besonders flauschig.
Mittwoch, 06.07. Galerie vom Mittwoch
Nicht ganz so flauschig scheint die Anreise vieler am Dienstag abgelaufen zu sein. Zwar konnte das ROCKHARZ-Team dank der Anreise-Umfrage dem überraschenden Vortagesandrang mit früherer Öffnungszeit und mehr Personal begegnen, doch der Zulauf war zeitweise so groß, dass es dennoch zu stundenlangen Verzögerungen kam. Wir luddern indes entspannt und über freie Landebahn und nach kurzer Glas-Kontrolle auf unser reserviertes Fleckchen Harzer Acker zu.
Am frühen Nachmittag werden wir schließlich standesgemäß mit Livemusik begrüßt. Wir sind ja schließlich zum Spaß hier! MUTZ & THE BLACKEYED BANDITZ eröffnen den ROCKHARZER Reigen mit entspanntem Rock’n’Roll bei einem Träumchen von Wetter. Nicht nur als launiger Einstieg sitzt die Bandwahl perfekt, die eine energiegeladene Masse vor der Doppelbühne versammelt. Mutz ist on top auch noch der Stagemanager des Festivals, was den Gig nicht nur zu einem Heimspiel vor-, sondern auch auf der Bühne werden lässt.
In fliegendem Wechsel starten nach kurzer Luft-Hol-Pause die norwegischen SIBIIR auf der Dark Stage und feuern uns kontrastierenden Blackened Hardcore um die lechzenden Lauscher. Obwohl meiner Wenigkeit das meiste mit „Core“ in der Genrebezeichnung nicht zusagt, sorgen die Osloer für eine wohlige Trommelfellmassage, die auch mal mit schwarzmetallischen Kälteumschlägen für Erfrischung sorgt. Die spartanische Bühnendekoration zeugt vom daheim vergessenen Backdrop. Doch die Jungs lassen die optische Leere mit SIBIIR-Sprechchören erfolgreich ausgleichen. Apropos Leere: die Norweger sorgen für das erste menschliche schwarze Loch des Festivals, auch Circle-Pit genannt. Wir laufen uns so langsam warm.
Am frühen Abend heißt es schließlich „40 Jahre GRAVE DIGGER“. Oder sind es nicht schon 42 Jahre? Eigentlich wollten die deutschen Heavy Metal-Legenden schon 2020 feiern, aber aus bekannten Gründen ist die Party in die Teststäbchen-Lösung gefallen. 42 ist für manche:n allerdings auch vielleicht einfach die bessere Zahl, um mit versammeltem Orchester und Dudelsäcken das Dasein zu zelebrieren. Schon mit dem Einstieg „The Dark of the Sun“ geht die Luzie ab und dann spielt auch noch übertrieben schön die tief stehende Sonne mit. Holy kitsch! 40 Minuten, „The Clans Will Rise“, „Rebellion“ und einige Crowdsurfer später, ist der für viele zu kurze Gig auch schon vorbei.
Während der Abend zu den Klängen von KATAKLYSM Fahrt aufnimmt, wollen einige Altbekannte wiedergetroffen werden. Zu lange ists her und nicht wenige trifft man eben nur ein mal im Jahr auf entsprechenden Festivals – zumindest so lange keine Pandemie ausbricht. TARJA verfolgen wir entsprechend aus sicherer Distanz von den zahlreichen und angenehm vielfältigen Fressbuden aus. Mehr Platz vor der Bühne für wahre Fans ihrer speziellen, wenn auch sicher gekonnten Oper-Sangesfreuden.
Leider ist auch dieses Jahr nüscht mit EC-Kartenzahlung auf dem ROCKHARZ. Das liegt nicht an möglicher Retro-Liebhaberei der Veranstalter für Hartgeld, sondern schlicht an der mittelalterlichen Netz-Anbindung des Harzer Hinterlandes. Da sich dieses Jahr trotz Anfragen auch kein Mobilfunkanbieter herablassen wollte, einen temporären Mobilfunkmast aufzustellen, bestreiten wir unsere Zusammenkünfte also ganz klassisch mit festen Treffpunkten, anstatt mit Absprachen über so wilde, moderne Geschichten wie Messengerdienste. Und denkste? Das funktioniert ganz tadellos. Immerhin hat die Internet-Abstinenz auch einen angenehmen Digital-Detox-Charakter.
Was nicht immer ganz so rund läuft – oder überhaupt läuft – ist das Bier in ausreichender Geschwindigkeit aus den Zapfhähnen. Die Gastrocrew musste natürlich wie überall jede Menge frisches Personal anheuern, da das alteingesessene während der Pandemie zwangsweise umsatteln musste. Und so teilen sich geübte Zapfhahn-Künstler mit noch etwas ungeübten Bierjongleuren die Thekentätigkeit. Die Folge: Um ans Flüssigbrot zu kommen, braucht man hin und wieder mal eine längere Ausdauer. Zum Glück scheint dieser Umstand vielen bewusst zu sein und so warten alle geduldig, bis der Ausschank vollbracht ist. Und ganz am Rande – oder vielleicht doch in der Mitte: Die gesamte Crew, ob hinter Zapfhähnen, Öfen oder der Bühne, vollbringt in Akkordarbeit mit Überstunden kleine Wunder. Danke dafür!
Wer schneller an sein Bier will, bekommt dieses Jahr erstmals mit einer Selbstzapfanlage eine Alternative geboten, die auch rege genutzt wird. Einmal bezahlen und dann selbst zapfen. Klingt vernünftig und geht schnell. Zumindest, solange man noch in der Lage dazu ist. So rettet Kollege René mit beherztem Eingreifen einen schon reichlich angeheiterten Zapfgesellen mit Schlagseite davor, statt ein neues Maß Bier, eine Bierdusche zu bekommen, als dieser seinen Krug mit dem Boden nach oben unter die Anlage stellt.
Zu SEPULTURA lassen wir uns schließlich nicht lange bitten. Es steht ein Abriss der so vernachlässigten Festival-Fitness ins Haus. Tragischerweise treten die Brasilianer ohne ihr langjährigstes Mitglied Andreas Kisser auf die Dark Stage. Weniger tragisch für uns, denn für den Gitarristen, der um seine vor zwei Tagen verstorbene Frau trauern muss. Hui. Die Band widmet ihr das Konzert und speziell den Song „Means to an End“ – und wir schlucken kurz. Dann entlädt sich ein Sturm, der seinesgleichen sucht. „We fought for good, stood side by side. Our friendship never died“. Die Energie ist endgültig auf dem Höhepunkt und ebbt bis zum letzten Song nicht mehr ab. Zumal uns insbesondere zum Finale hin Nackenbrecher wie „Refuse/Resist“, „Ratamahatta“ und „Roots Bloody Roots“ erwarten. Sänger Derrick Green ein Mann wie eine Wand samt entsprechender Stimme, fegt bis zuletzt über die Bühne und damit auch jegliche existierende Energie übers staubige, gerammelt volle Feld.
Lange Verschnaufpause ist nicht, zumindest für jene, denen der harte Genrewechsel zu Mittelalter Rock & Metal nicht zu viel abverlangt. IN EXTREMO nutzen nicht nur die mitternächtliche Dunkelheit für allerhand Feuerfontänen, sondern auch für eine wahre Breitseite der Hits, die sich in ihrer langjährigen Karriere angesammelt haben. Entsprechend viele Kehlen beteiligen sich an der stimmlichen Begleitung von „Frei zu sein“ oder „Spielmannsfluch“. Da braucht es auch gar keine Animation von Sänger Michael aka „Das letzte Einhorn“, auch wenn dieser immer wieder zum Mitmachen auffordert. Es kann einfach keiner nicht mitmachen. Die Masse springt, schunkelt, liegt sich spätestens mit „Küss mich“ in den Armen. Und so geht ein viel zu perfekter erster Festivaltag zu Ende.
Donnerstag, 07.07. Galerie vom Donnerstag
Moment. Habe ich zum Mittwoch eben „viel zu perfekt“ geschrieben? Hätte ich mal besser an mich gehalten, dann hätte sich das Wetter vielleicht nicht getriggert gefühlt. In der Nacht zecken sich fette Regenwolken über uns fest. Der Donnerstag wartet mit Schietwedda auf, das sich gewaschen hat. Also uns. Der Tag serviert uns Regen und Windböen, die nicht nur unsere Laune, sondern auch unseren Pavillon und unser Zelt auf die Probe stellen. Unsere kläglichen Versuche, die nur halbherzig vertäuten Planen mit völlig krummen Heringen windfest zu machen, können unsere Nachbarn nicht mit ansehen, und leihen uns kurzerhand vernünftige Erdbolzen, die endgültig jeglichen Flugversuch unseres Zeltes unterbinden. Euch sei von Herzen gedankt!
Während sich bei uns im nun gesicherten Camp allgemein wenig Lust bahn bricht, Richtung Infield zu stapfen, ist Kollegin Maren nicht so zimperlich und findet sich pünktlich für ENEMY INSIDE vor der Dark Stage ein – als sich glücklicherweise die Wolken am Riemen reißen. Schotten dicht und Ohren auf für gleißend hellen … nicht Himmel, aber wenigstens Outfits. Das Quartett hebt sich ganz in Weiß vom Bühnenschlund ab und Sängerin Nastassja Giulia verschwimmt beinahe zu einem rot-weißen Schweif, während sie rastlos von links nach rechts über die Bretter läuft. Kein Wunder, dass sie nach dem 3. Song langsam außer Atem ist. Ein Wunder, dass sich das nur in den Ansagen zwischen den Songs, nicht aber beim Gesang bemerkbar macht. Ein noch größeres Wunder: erst als ENEMY INSIDE ihr Set beenden, bricht der Wolkenschlund wieder auf und es ergießt sich eine kalte Dusche über alles und jeden.
Doch die hartgesottenen hält es vor der Bühne. Und wer GERNOTSHAGEN hört, der ist ganz sicher nicht zimperlicher Natur. Wer die Dusche lieber auf klassische Art genießt, durfte sich, mit einer Duschmarke ausgestattet, ins Duschcamp bewegen. Der loungige Vorplatz bestehend aus gepolsterten Palettenbänken und Palmen lässt einen kurz vergessen, sich auf einem Metalfestival zu befinden. Dann steht man vor der Wahl aus großem Duschzelt und Duschcontainern. Camp-Mitbewohnerin Martina entscheidet sich für die Container, was sich leider als der Zonk herausstellt. Der morsche Boden hat schon bessere Tage gesehen und scheint stellenweise nur noch von der PVC-Beschichtung zusammengehalten zu werden. Das Wasser ist indes arschkalt. Also Zähne klappernd zusammenbeißen und durch. Unterdessen freuen sich die Mädels im Duschzelt über lauwarmes Wasser. Als ich am nächsten Tag den angesammelten Schmodder loswerden möchte, ist das Wasser immerhin noch laukalt. Also alles im kneipp’sch-erfrischenden Rahmen. Hin und wieder hallt dennoch ein überraschtes „Heilige Scheiße ist das kalt!!“ durch das Zelt.
Obgleich uns das Wetter den restlichen Donnerstag auf eine harte Probe stellt, sind alle, ob vor, auf oder hinter der Bühne sichtlich dankbar endlich wieder teil dieser Festival-Zusammenkunft zu sein. Auch wenn sich die Infield-Aktivität bei SCAR SYMMETRY aus Wettergründen noch in Grenzen hält, ballern die Schweden eine ordentliche Mischung als jüngerem Output und Klassikern durch die feuchten Boxen. Doch nicht nur mir haben Sie allerspätestens mit meinen Jugend-Hits „Pitch Black Progress“ und „The Illusionist“ die letzte Nässe vom Haupt geblasen.
Auch SUBWAY TO SALLY (noch mehr Jugenderinnerungen) feuern ein Best-of aus allen Rohren. Und so kommen die allseits geschätzten Grabenschlampen nicht nur durch die Pyro ins Schwitzen. Von speed-aufnehmenden Circle Pits bei „Besser du rennst“ oder den episch schmachtigen „Eisblumen“ ist ein großes Wir-Gefühl vor der Bühne zu spüren.
Ein Gefühl, welches sich auch beim Headline POWERWOLF fortsetzt – auch wenn ich die bei vielen beliebte Metal-Messe lieber von der luftigen Seite aus mitverfolge. Vor allem Sänger Attila merkt man den Spagat zwischen Routine und langer Spielpause an. Es kommt zu ein paar sympathischen Patzern, wie dem Durcheinanderbringen der Setlist („Ich hab mich vertan, wir heulen gleich noch mal zusammen!“) oder der Aufforderung an das weibliche Publikum „Wo sind die Mädels hier im Saal?“, um dann festzustellen, „Moment, wir sind ja in gar keinem Saal!“. All das hält die Fans jedoch nicht davon ab, final ihre Stimmbänder in die ewigen Jagdgründe zu schicken.
Leider machen wir auch eine unschöne Erfahrung an diesem Tag, als neben uns ein ordentlich angeheitertes Mädel steht. Und diese ist natürlich absolut kein Problem, wir alle trinken ja auch mal den einen oder anderen zu viel – zumal die Trinkfestigkeit in den letzten zwei Jahren massiv abgebaut hat. Viel mehr ist es die Truppe aus rund fünf Männern hinter ihr, die sich gackernd und fragwürdige Gesten machend gegenseitig aufstacheln, und drauf und dran zu sein scheinen, die Situation auszunutzen. Man möchte brechen.
René fackelt nicht lange und stellt sie zur Rede. Wie schnell fünf gestandene Ü40-Würstchen kleinlaut werden können, ist schon beachtenswert. Wir nehmen kurzerhand das Mädel an der Hand und bugsieren uns alle aus der Schusslinie der Dummheit. Auf solche asozialen Festivalbesucher können wir gerne verzichten. Zum Glück sind diese eine sehr kleine Minderheit. Ansonsten herrscht auf dem ROCKHARZ so viel friedliches und hilfsbereites Miteinander, dass es eigentlich nur noch Glitzer regnen muss, um dem wundervollen zwischenmenschlichen Kitsch gerecht zu werden.
Freitag, 08.07. Galerie vom Freitag
Das Wetter ist uns endlich hold. Nur das Schlafbedürfnis nicht, welches alkohol- und situationsbedingt mit jedem Festivaltag unweigerlich steigt. Leider wurde dieser Umstand nicht in die Running Order mit einbezogen, sodass der Tages-Opener, nicht noch wie gestern gegen 13 Uhr, sondern schon um 11:20 Uhr aufspielt. Auf Kollegin Maren ist wie schon am Vortag verlass. Zumindest was das Aufschlagen zu humaner, mittäglicher Uhrzeit bei den Celtic-Punk-Rockern PADDY AND THE RATS angeht. Und die Ungarn wirken scheinbar besser als ein Liter Koffeinhaltiges. Es wird getanzt, gehüpft, gesungen – und gehockt. Ob Mann will oder nicht. So auch derjenige, der Maren fragt, ob sie ihm nach dem Hinhocken wieder aufhelfen kann, weil der Bewegungsapparat nicht mehr ganz so mitmacht. Der reicht hoffentlich noch für die Wall of Death, die schließlich alle mit ausreichend Wachmacher-Adrenalin für den Tag versorgt.
Gestriegelt und nach einem intravenösem Bröselkaffee steht dem kurzen Marsch aufs Infield nichts mehr im Wege. So die Intention. Doch der Kaffee hat seine Wirkung eindeutig zu spät entfaltet. Das Ende vom Trauerlied ist ein im Kofferraum liegender Autoschlüssel in einem verschlossenen Auto. Jegliche Selbstversuche den alten Ford Fiesta – liebevoll „stinkende Hannelore“ genannt – zu öffnen, laufen ins Leere. Und ein „gelber Engel“? Sicher meilenweit entfernt. Der Mangel an Mobilfunknetz lässt mich und Kollege René erst mal zu den Camp-Ground Betreuern an der Zufahrt laufen. Zum Glück, denn wie sich herausstellt, ist ein ADAC-Held – wie sollte es eigentlich anders sein – schon auf dem Gelände unterwegs und hilft anderen unglücklichen Seelen mit höchstwahrscheinlich ähnlichen Problemen.
Der per Funke georderte ADAC-David kommt etwa 40 Minuten später mit gelbem Abschlepper, quietschenden Reifen und ruckartig nach vorne fliehendem Führerhaus neben uns zum Stehen. Ganz offensichtlich: Es ist viel zu tun. Einmal kurz abgeklärt, wo das Schlüssel-im-Auto-Problemchen herrscht, findet David zielsicher 30 Minuten später, nach dem Verarzten anderer Autotechnikgebeutelter, den Ort des Malheurs. Keine 7 Minuten und ein paar anfeuernde Schaulustige später ist das Auto auch schon auf. Danke David! Als Dank gibts neben Trinkgeld natürlich noch ’ne Dose kühles Helles – für später natürlich. Ich stelle mir vor, wie im Beifahrerfußraum des Abschleppers schon 36 Dosen Dankes-Bier als allen Ecken Deutschlands kullern.
So erleichtert wie wir sind, tut es auch nicht ganz so weh, MOONSORROW und DESERTED FEAR verpasst zu haben. Erst zu JINJER schaffen wir es vor die Rock Stage. Und wie sich herausstellt, keine Sekunde zu spät. Die aus der Ukraine stammende Band durfte dank einer Sondergenehmigung des ukrainischen Kulturministeriums ausreisen und auf diversen Festivals als Botschafter ihres Landes auftreten. Und die Botschaft ist auch visuell eindeutig. Auf dem bühnenhohen Backdrop prangt in Blau und Gelb unter dem Bandlogo ein riesiges Peacezeichen.
Nach sang- und klanglosem, dafür growl- und ballereskem Auf-die-Zwölf-Start mit „Call Me A Symbol“, geht es wortlos und straight durch die ersten Titel der Setlist. Schließlich spricht Fronterin Tatiana Shmayluk. Über den „ridiculous war“ in ihrem Land und die großartige Unterstützung, die Sie und ihre Landsleute aus aller Welt und auch aus Deutschland erfahren. Die stille, gefasste Stimmung entlädt sich zunächst in frenetischen Applaus, um sich das restliche Set vollends zu entladen.
Nachdem wir parallel zu FINNTROLL erst mal einen wirklich schmackhaften Gemüseflammkuchen schnabulieren, gehts frisch gestärkt zu AT THE GATES welche mit einer schönen Überraschung aufwarten, die leider einen unschönen Ursprung hat. Nach dem Abfeuern des Klassikers „Blinded by Fear“ eröffnet Sänger Tomas, dass vor zwei Tagen seine Mutter verstorben sei und dass das Album „Slaughter Of The Soul“ ihre CD-Sammlung gekrönt habe. Ihr möchte die Band nun das Konzert widmen und besagtes Album in seiner gesamten Pracht spielen. Und so ist der Applaus gleichzeitig Ausdruck von Freude als auch eine Beileidsbekundung, die Tomas sichtlich berührt.
Wohl auch, damit der Genre-Bruch zu STEEL PANTHER nicht ganz so krass ausfällt, übernehmen nach AT THE GATES erst mal ENSIFERUM das Bühnensteuer. Unterdessen sind Animateur:innen mit Kärtchen der Grabenschlampen unterwegs, die beim Folgegig zum Blankziehen auffordern. Soll das eher die L.A.-Glam-Metaller auf der Bühne erfreuen, oder den Secus davor die Arbeit versüßen? Und tatsächlich, die Aufforderung scheint zu wirken, so viel nackte Haut und Nippel wie im Sonnenuntergang aufblitzen. Amüsanterweise sind die Nippel zu gefühlt 95 % behaart und männlich. On top crowdsurfen in der nie enden wollenden Masse auch zwei splitterfasernackte Herren der Evolution der Bühne entgegen. So hatten sich das die Grabenschlampen wohl nicht vorgestellt – die natürlich dennoch gewissenhaft ihrem Job nachgehen.
Zum Ausgleich bitten STEEL PANTHER wie bei jeder ihrer Shows pünktlich zur Ballade „Weenie Ride“ eine Frau aus dem Publikum auf die Bühne. Miriam, wenn ich ihren Namen richtig verstanden habe, wirkt bühnenerfahren und tanzt selbstbewusst und eng um Sänger Michael Starr. Ob diese wirklich mal eben spontan auserwählt wurde, darf infrage gestellt werden, aber womöglich hat die Band auch einfach nach einem kleinen Minderjährigen-Fauxpas dazugelernt und schließt lieber jegliche Zufälle aus.
Zum folgenden „17 Girls In A Row“ bekommen Band und Miriam dann standesgemäß weitere weibliche Unterstützung auf die Bühne gestellt.
Uns zieht es an diesem Abend weg von den Headlinern hin zu einem – oder besser mehreren – kühlen nächtlichen Absackern und tiefgründigen Gesprächen über Paralleluniversen, Phasenauslöschung und Gänsen, während wir vorbeiziehenden Satelliten am wolkenfreien Nachthimmel hinterherschauen. Auch so sehen perfekte Festival-Nächte aus.
Samstag, 09.07. Galerie vom Samstag
Den sonnigen Morgen nutzen wir, um unser Zelt trocken zu verstauen. Denn für uns heißt es heute Abend schon adieu ROCKHARZ. Entsprechend entspannt schauen wir auch den neu anrollenden Regenwolken entgegen, die sich aber entgegen ihrer Optik als nicht ganz so erbarmungslos herausstellen. Der Wechsel zwischen dicken schattigen Wolken mit ordentlich frischer Brise und bratender Sonne macht ein minütliches an- und ausziehen vom Hoodie obligatorisch.
Wer am letzten Festivaltag schon um 11:20 vor den Bühnen steht, muss entweder verrückt oder Pirat:in sein. Denn wenn STORM SEEKER rufen, dann wird von echten Fans zurück gebrüllt. Der Gig startet zunächst noch mit ein paar Sound-Kinderkrankheiten und auch Sängerin Fabi braucht noch zwei Songs, um sich in der Frühe so richtig warm zu singen. Doch dann gehts rund. Und zwar in Polonaise-Form und auch mit kollektivem Rudern. Frühsport der auch noch die letzte verbliebene Energie bündelt, um durch den letzten Festivaltag zu kommen.
Zur besten Mittagszeit treten AD INFINITUM auf die Bretter. Bemerkenswert ist, dass es die Band, die aus einem Soloprojekt von Melissa Bonny (EVENMORE, RAGE OF LIGHT) entsprang, erst seit 2020 gibt. Bedeutet nichts anderes, als dass die Melodic Metaller pandemiebedingt bisher quasi keine Möglichkeit hatten, live aufzutreten. Dadurch fehlt eventuell auch ein bisschen die Selbsteinschätzung. Melissa fegt zunächst noch sehr aktiv über die Bühne, verhaut infolgedessen den einen oder anderen Ton. Dann besinnt sie sich auf ausladende Gesten und zack, tönt es beeindruckend klar.
Es folgt wahres Kontrastprogramm in Form von EKTOMORF. Groove Metal auf die Zwölf und das ordentlich politisch. Sänger Zoltán Farkas gehört der Volksgruppe der Roma an, die nur 2 % der ungarischen Bevölkerung ausmacht und der Diskriminierung im großen Maßstab widerfährt. Seine Erfahrungen und negativen Gefühle kanalisiert der Fronter mit so viel Energie in Songs wie „Raise your Fist“, dass nach kurzer Zeit von der anfänglichen Zurückhaltung im Publikum nichts mehr zu spüren ist. Und so kracht nach nicht allzu langer Zeit die erste Wall of Death ineinander.
Mit ein paar mehr Atempausen spielen UNLEASHED am frühen Nachmittag auf. Ihren schnörkellosen Swe-Death verziert das Quintett mit schön authentischem Headgebange, dem Tomas, Johnny, Fredrik und Anders auf vielfältigste Weise nachgehen. Die besagten Atempausen gibt es immer wieder zwischen den Songs, in denen es so scheint, als würde die Band beraten, welcher Song zur aktuellen Stimmung am besten passt und am meisten reißt. Das Resultat ist ein Potpourri aus gut 33 Jahren Bandgeschichte angefangen bei „To Asgaard We Fly“. Vor „Midvinterblot“ stimmen die Herren zunächst ab, ob ein Winterlied im Sommer angemessen scheint. Und die kurze Irritation, die herrscht, als Johnny plötzlich komplett von der Bühne verschwindet, löst sich schnell auf, als dieser standesgemäß mit einem gefüllten Trinkhorn zurückkommt, um kurz vor Gig-Ende „The Dark One“ anzustimmen.
Fliegender Wechsel zur Nachbarbühne und zu Herren aus dem schwedischen Nachbarland Finnland. INSOMNIUM warten mit so perfektem Sound auf, dass es einem die Tränen in die Augen treibt – daran ist also ausnahmsweise weder die gleißende Sonne, noch der ausdauernde starke Wind schuld. Leider sind in viel zu schlanken 45 Minuten nur 8 Songs unterzubringen und so geht es recht zügig von „Karelia“ über „Ephemeral“ bis hin zu „Heart like A Grave“. Für jeden verdient frenetischen Jubel bedankt sich Niilo Sevänen wie immer bei Gigs in deutschsprachigen Landen mit seinem charmant schrulligen „Dankeschön, bitteschön!“. Und bitteschön, beim vorletzten „While We Sleep“ ergießt sich ein nicht enden wollender Crowdsurfer-Strom in die Arme der Grabenschlampen.
Und dann gibt es da noch eine Band, die nicht auf dem Line-up auftaucht, die aber auf keinem ROCKHARZ fehlten darf. Gemeint ist selbstverständlich die CANTINA BAND. Wie? Verpasst? Dabei ist das fast unmöglich, zumindest, wenn man auch mal über das Zeltgelände flaniert. Die Truppe, wie es scheint auch bestehend aus Teilen der ROCKHARZ-Crew, rollt auf der Ladefläche eines Unimogs über das Gelände und gibt auf trötigen Plastikinstrumenten ihren Evergreen zum Besten. Dass das der beste Song ist, bestätigen selbstverständlich auch alle unweigerlichen Zuhörer:innen und fordern „den gleichen Song nochmal“. Und nochmal. Und nochmal.
Die CANTINA BAND-Begegnung macht den leider etwas frühzeitigen Abschied, der uns die Headliner des Abends verwehrt, glücklicherweise wieder etwas wett. Nachdem das letzte Pfand zu den Mädels und Jungs von GLÜCK IN DOSEN und der Müllsack zum Container gebracht ist, juckeln wir etwas wehmütig, aber umso seliger von der Landebahn und heben in Gedanken schon wieder ab zum nächsten ROCKHARZ. Und das verspricht großes. Schließlich feiert die Metal-Zusammenkunft in Ballenstedt ihr 30-jähriges Jubiläum.